_ 1979-1987 Tänze und Aktionen | Ulrike Grossarth

1979-1987 Tänze und Aktionen

Seit 1975 entwickelte ich Tänze und Aktionen. Ich werde ich an dieser Stelle nicht detailliert die einzelnen Stücke beschreiben, sondern eher Aspekte schildern, die sie verbinden.

In den ersten Arbeiten, wie z.B. Hochzeit und Totentanz, gab es noch thematische Vorlagen und eine Verwendung von Bildmotiven, z. B. die mittelalterlichen Totentanzdarstellungen des großen Reigens der Gleichbehandlung aller weltlichen Hierarchien durch den Schnitter Tod. Life war die erste Aktion, die Bedingungen für raum-zeitliche Prozesse in Staffelungen von einzeln behandelten Aspekten untersucht. Vier Akteure widmeten sich dem Aufspalten und gleichzeitigen Verkörpern von Phänomenen wie Zeit, Raum und Gewicht, also von Aspekten, die normalerweise als bloße Voraussetzung für die jeweiligen Themen gelten und somit unsichtbar bleiben.
Nur eine Akteurin in Life ließ sich unterbrechen in ihrem absichtslosen Da-Sein während der Aktion. Das minutenlange Festhalten und Fixieren einer momentan verkörperten Haltung und einer Mimik war der einzige dramaturgische Eingriff.

In den darauffolgenden Aktionen mit den Titeln Das Unheimliche des NormalenCarré und Ex Voto setzte ich Gegenstände ein, die als vermittelnde Medien, gleichsam als Steigerungshilfen, die jeweils verkörperten Aspekte bestimmten und verstärkten. In den Gotischen Tänzen kam diese Aufgabe dem Kleid zu, das ich trug. Durch die hohe Dynamik dieses Stückes entstand nach und nach eine Einheit von Trägerin und dem Kleid als „bewegtem“ Stoff. Die Gotischen Tänze waren das Resultat einer Auseinandersetzung mit dem Gebrauch von Material während des mittelalterlichen Kathedralenbaus. Die Weise, in der damals der Stein Verwendung fand, diente nicht mehr dem organischen Lasten und Tragen, sondern man dünnte den Stein aus, um metaphysische Ideen zu symbolisieren, die traditionell mit der Abnahme von Material, von Physis, verbunden werden. Mich interessierte die Übersetzung dieses Prinzips auf die eigene Materialität und das Verhältnis zum raum-zeitlichen Feld. Ich versuchte, der Raumgeometrie, dem ordnenden Auge der Besucher, in uneindeutige Richtungen auszuweichen und eine multidimensionale Studie anzulegen, deren Gesamteindruck eine unaufhaltsame Dynamik und Intensität in Dauer war. 

In den letzten drei Aktionen, die ich unter den Titeln Material für’s Diktat I, II, III im Laufe von zwei Jahren entwickelte, spitzte sich die unmittelbare Thematisierung von Gegebenheiten zu. In Material für’s Diktat I stellte ich den Körper selbst in seinen Bedingungen zur Disposition. In einem sonst leeren Raum waren Mikrophon und Lautsprecher an einer Wand angebracht. Dort verlas ich Texte, in denen Bewegungssituationen und -zustände geschildert wurden. Nach jedem Textfragment ließ ich dann die physische Anschauung des soeben Verlesenen folgen. Es war ein weiterer Versuch, die sprachliche Abstraktionsebene mit einer raum-zeitlichen Faktizität abzugleichen. Material für’s Diktat II mit dem Untertitel Der geliehene Körper hatte einen alten Feuerwehrturm als Bezugspunkt, einen klar definierten Baukörper mit sechs großen Öffnungen, den ich wochenlang von innen und außen reinigte. Das Gebäude interessierte mich, weil sich seine Höhe und Leere aus der Nutzungsabsicht ergeben hatte, lange Wasserschläuche zum Trocknen darin auszuhängen. Die Aktion begann mit der Bürgerlichen Dämmerung (einem Begriff aus der Meteorologie), die mit dem Sonnenuntergang beginnt. Auf dem Gelände vor dem Turm konnte ich an einem Mischpult Licht und Tonelemente einspielen, die im Laufe einer Stunde die Umkehr von einem noch deutlich wahrnehmbaren Baukörper in eine bloße Hülle für das einflutende Licht unterstützte.

Material für’s Diktat III war der Abschluss dieser Reihe. Ich sah mich selbst als Ort des Formgeschehens und hielt, der permanenten Bewegung folgend, keine planende kontrollierende Distanz mehr aufrecht. Die Art der Bewegungen, die stattfanden, war das Ergebnis des Zusammenwirkens mit dem mich umgebenden Raum als bewusst wahrgenommener aktiver Sphäre. Dadurch konnte ich alle Aspekte, die normalerweise in unserer Kultur getrennt werden, im Moment verkörpern.

Vgl. Rainer Borgemeister: „Die Aktionen von Ulrike Grossarth (1978-1987)“, in: Reste vom Mehrwert, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 1997.